Automotive OS und die Implikationen für die Zulieferindustrie

München, Juli 2023

Automotive OS und die Implikationen für die Zulieferindustrie

München, Juli 2023
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W.os (Volkswagen), Arene OS (Toyota), Xmart OS (Xpeng), MB.OS (Mercedes-Benz), Ford.OS (Ford) und viele weitere – nahezu jeder OEM hat inzwischen eine Softwareplattform (marketingtechnisch) lanciert, die geradezu sinnbildlich für die Transformation zum Software Defined Vehicle steht.

In diesem Kontext werden gerne Vergleiche mit Betriebssystemen aus der Konsumgüterindustrie aufgestellt, wie das „Windows“ oder „iOS“ für das Fahrzeug. Obwohl die Vergleichbarkeit hier eingeschränkt ist, zeigt der Vergleich die klare Devise an die Kunden: das Fahrzeug ist ein Gerät, welches ganz ähnlich funktionieren soll wie ein Smartphone, d. h. mit regelmäßigen Updates, Funktionserweiterungen nach Auslieferung und einer nahtlosen Einbettung in den Alltag.

Automotive OS als Enabler für das Software Defined Vehicle

Doch was genau ist ein „Automotive Operating System (OS)“? Diese scheinbar einfache Frage ist bei weitem nicht so trivial wie man vermuten könnte, denn im Zuge einer Befragung von Industrieexperten (Berylls Automotive OS Study 2023) sind 82 Prozent der Überzeugung, dass es kein einheitliches Verständnis über den Inhalt des Automotive OS in der Industrie gibt. Wagt man den Versuch einer möglichst konsensfähigen Definition, so lässt sich das Automotive OS wohl am ehesten als Softwareplattform und Entwicklungs-Framework bezeichnen, welches von Kerndiensten (z.  B. Hypervisor), über die Middleware (z. B. Kommunikationsschnittstellen) bis hin zu Plattformdiensten (z. B. Fahrzeugstatus) reicht.

Das Automotive OS soll als Abstraktionsschicht zwischen Soft- und Hardware die kontinuierliche Weiterentwicklung von Funktionen über Fahrzeuggenerationen hinweg, höhere Geschwindigkeit in der Entwicklung und eine einfache Integration von Drittanbietersoftware ermöglichen, ­um nur einige zentrale Punkte zu nennen.

Das Automotive OS ist dabei vor allem eines: Enabler. Der Fahrer oder Benutzer eines Fahrzeugs merkt hiervon zunächst denkbar wenig und könnte die verschiedenen OS der OEMs nicht voneinander unterscheiden; das Operating System kann nicht zur Differenzierung dienen, wohl aber das Vorhandensein eines solchen. Dass die OEMs an ihrem eigenen OS arbeiten, liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass sie es benötigen, um einerseits die Software-Komplexität über die verschiedenen Modelle und Baureihen hinweg beherrschbar zu machen und andererseits die Fahrzeuge gemäß der Kundenerwartung kontinuierlich „beim Kunden“ weiterzuentwickeln. Dass sie es dabei selbst tun und kein fertiges OS kaufen, liegt daran, dass es quasi keine vollständige Lösung für den Markt gibt. Vorhandene Lösungen zielen dabei zumeist auf einzelne Domänen ab (insbesondere im Bereich Infotainment gibt es diverse „OS“).

Die große Redundanz – warum eine Konsolidierung erwartbar ist

In dieser Situation, in der nahezu alle OEMs an einem nicht differenzierenden OS arbeiten und hierfür enorm hohe Investitionen tätigen, ist eine Konsolidierung nahezu zwangsläufig erwartbar. Nicht zuletzt auch, weil vielen OEMs die notwendigen Fähigkeiten und vor allem Ressourcen fehlen, um alles selbst in der gesetzten Zeitschiene zu entwickeln, wie 86 Prozent der befragten Experten mit hoher Zustimmung bestätigen.  Das zeigte sich auch in der Industrie angesichts der sich ändernden Strategien.

Etwa 74 Prozent der befragten Industrieexperten sind sich sicher, dass sich langfristig etwa drei bis fünf Plattformlösungen im Markt etablieren werden. Auffällig ist hierbei, dass die Zustimmung unter den befragten Führungskräften von OEMs geringer ausfällt als die von Zulieferern und Big Techs. Eine mögliche Ursache für die verhaltene Konsolidierungserwartung auf Seiten der OEMs liegt auch in der Unsicherheit über die Trennung von differenzierenden und nicht-differenzierenden Aspekten des AOS. Hierzu kommt die mit einer Konsolidierung einhergehende Sorge über fehlgeleitete Investitionen und den Verlust über die Kontrolle der Softwarearchitektur und den Funktionsumfang im Fahrzeug. Einfach ausgedrückt: die befragten OEM-Führungskräfte sind sich derzeit noch unsicher, ob und wie eine Konsolidierung funktionieren kann und welche Konsequenzen dies für sie hätte. Zulieferer hingegen sehen die Konsolidierung überdurchschnittlich stark und stellen sich strategisch entsprechend auf.

Wer die avisierten drei bis fünf Plattformlösungen bereitstellt, ist noch völlig offen. Für eine Mehrheit der Befragten (60 Prozent) scheint aber klar zu sein, dass Big Techs wie Google im Automotive OS Markt erfolgreich sein werden. Dies ist nicht verwunderlich, sind beispielsweise Google Dienste in immer mehr Fahrzeugen, wie zuletzt von Mercedes-Benz angekündigt, fester Bestandteil. Und auch wenn sie heute noch sehr über die Applikationen in ihren klassischen Domänen Infotainment aber auch autonomes Fahren kommen, so ist zu erwarten, dass sie sich sukzessive im Automotive Stack vorarbeiten, um das eigene Cloud- und Datengeschäft über Bundling-Kooperationen sicherzustellen.

Ein Großteil der befragten Experten (78 Prozent) glaubt daran, dass Open-Source Software (OSS) eine wichtige Rolle bei künftigen AOS-Lösungen spielen wird. Insbesondere Experten von Big Techs sehen die Etablierung einer Open Source Plattformlösung als sicher an, wie sich auch an den entsprechenden Strategien ablesen lässt. Vertreter der Zulieferer zeigen sich bezüglich des Erfolges von Open-Source Automotive OS Lösungen eher skeptisch. Als Gründe sind hier neben offenen Fragen zur Monetarisierung und einem befürchteten Kontrollverlust vor allem auch ungeklärte Lizenz- und Haftungsfragen zu nennen.

Zulieferer mit Risiken durch die Separierung von Hardware und Software

Da sich durch eine hardwareunabhängige Softwareplattform auch eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Software umsetzen lässt, werden OEMs künftig auch den Lebenszyklus der Fahrzeuge anders betrachten und zunehmend auf kontinuierliches Lebenszyklusmanagement setzen. Dies bestätigen auch 72 Prozent der befragten Experten mit hoher Zustimmung. Besonders die Vertreter von Big Techs zeigen sich hier sehr optimistisch, auch weil sie auf ihre Erfahrungen aus der Konsumgüterindustrie (bspw. Smartphones) und dem Internet of Things (IoT) in Kombination mit ihren Cloud-Diensten zurückgreifen können.

Der Übergang zu einem kontinuierlichen Lebenszyklusmanagement bricht dabei mit dem traditionellen SOP-orientierten Lieferkettenmodell, das durch eine Planung in Sechs-Jahreszyklen gekennzeichnet ist. Folglich müssen die Zulieferer ihre Entwicklungsressourcen zunehmend flexibilisieren, da die Planbarkeit abnimmt und andere Rahmenvertragslaufzeiten zur Norm werden. Zulieferer können jedoch auch von längeren Hardware- und Basis-Software-Lebenszyklen profitieren, und so die Entwicklungskosten besser umlegen. Zudem können diejenigen, die über geeignete Fähigkeiten verfügen, auch zu strategischen Partnern werden und über neue Monetarisierungsmodelle entlang des Lebenszyklus des Fahrzeugs partizipieren.

Durch die Separierung von Hardware und Software ergibt sich ferner auch das Risiko für „Tier 1“- Zulieferer, ihr klassisches Geschäft als Systemlieferant zu verlieren, denn die heutige Kombination aus integrierter Hardware und Software kann künftig auch anders gelöst werden. So kann die Software separat von der Hardware zugekauft werden und einer der zahlreichen Entwicklungsdienstleister die entsprechende Integration übernehmen. Die Zulieferer laufen dabei möglicherweise Gefahr, zu reinen Hardware-Lieferanten degradiert zu werden, wie 76 Prozent der befragten Experten verstärkt befürchten. Dies stellt sie in den Wettbewerb zu „echten“ Hardware-Auftragsfertigern mit deutlich schlankeren Kostenstrukturen und die avisierten EBIT-Ziele rücken für viele in weite Ferne.

Automotive OS wird die Beziehung zwischen OEM und Lieferanten weiter verändern

Auch wenn das Operating System der OEMs noch nicht klar definiert ist, so sind die Ziele eindeutig und die Umsetzung unabdingbar. Ob die OEMs auch in fünf Jahren noch ihre jeweilige nicht differenzierende autarke Lösung entwickeln, statt auf eine dann im Markt verfügbare Lösung von Big Tech, Open Source, Softwareanbieter oder anderen OEMs zurückzugreifen, darf bezweifelt werden. In jedem Fall wird es die Schnittstelle zwischen OEMs und Zulieferern verändern, denn die Nutzung einer fahrzeugübergreifenden Softwareplattform kann das heutige Geschäftsmodell vieler Zulieferer in Bedrängnis bringen, birgt jedoch gleichzeitig Chancen für eine Fokussierung des Geschäfts und neue Partnermodelle sowie eine Marktöffnung für „Tier-n“-Zulieferer.

Autoren
Dr. Jürgen Simon

Associate Partner

Sebastian Böswald

Associate Partner

Felix Günther

Consultant

Dr. Jürgen Simon

Dr. Jürgen Simon (1986) ist als Associate Partner bei Berylls by AlixPartners (ehemals Berylls Strategy Advisors) tätig, einer internationalen und auf die Automobilitätsindustrie spezialisierten Strategieberatung. Er ist Experte für Vertriebs- und Unternehmensstrategien sowie M&A und kann auf eine langjährige Beratungserfahrung zurückschauen. Er berät seit 2011 Automobilhersteller und -zulieferer und verfügt über fundiertes Expertenwissen in den Bereichen ganzheitliche Strategieentwicklung, Geschäftsmodelle und Commercial Due Diligence. Weitere Schwerpunkte liegen in Markteintrittsstrategien sowie Themen rund um das „Software Defined Vehicle“. Als diplomierter Ökonom der Universität Hohenheim hat er vor seinem Einstieg bei Berylls am Institut für Unternehmensführung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) promoviert.

Sebastian Böswald

Sebastian Böswald (1991) kam im April 2021 zu Berylls by AlixPartners (ehemals Berylls Strategy Advisors). Er ist Associate Partner und ein Experte für Transformation und Betrieb. In den letzten zehn Jahren hat er sich auf Strategie und Organisationsdesign sowie auf zwei Megatrends konzentriert, die die Automobilindustrie prägen: Software-definierte Fahrzeuge und CASE (Connected, Autonomous, Shared und Electrified Mobility). In diesen Bereichen hat er sowohl unsere globalen OEM-Kunden als auch Tier-1-Zulieferer und Technologieunternehmen beraten.

Bevor er zu Berylls kam, arbeitete er für PwC Strategy& und begann seine Karriere bei BMW als Projektmanager für Produktstrategie und digitale Ladedienste.

Er erwarb einen Bachelor of Science in Automobilinformatik an der Technischen Universität Ingolstadt sowie einen Master of Science in Management an der Technischen Universität München.