DACH Automobilindustrie

Die neue Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Zulieferindustrie: Neuaufstellung durch Digitalisierung vs. Verharren in traditionellen Geschäftsmodellen

München, Mai 2018
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urch die Automobilzulieferlandschaft zieht sich ein Riss, und er wird immer breiter: Konzerne versus Mittelstand, Verbrenner versus CASE, Triade versus China, Etablierte versus Start-Ups. Die Dynamik, mit der die Transformation zahlreicher Unternehmen und der gesamten Industrie vorangetrieben wird, ist atemberaubend.

Bosch hat das Turbolader- (BMTS, 2017) und Starter-Generatoren-Geschäft (SEG Automotive, 2018) verkauft. Honeywell bringt seine Turboladereinheit Garrett Motion an die Börse (2018). Die an den Finanzinvestor Melrose verkaufte GKN (2018) trennt sich Schritt für Schritt von einzelnen Einheiten (Pulvermetallurgie, 2019). Delphi wurde in zwei Unternehmen, Aptiv (Automobilelektronik und „advanced safety technology“) sowie Delphi Technologies (Elektrofahrzeuge und Verbrennungsmotoren) aufgeteilt (2018). Continental plant für Mitte 2019 die Ausgliederung und den Verkauf der „Powertrain“-Sparte. FCA hat sich als OEM komplett aus dem Zuliefergeschäft durch den Verkauf von Magneti Marelli an Calsonic Kansei (2019) zurückgezogen. Nach dem Verkauf von Federal Mogul an Tenneco erfolgt die Aufteilung in zwei Einheiten: „Aftermarket /Ride Performance“ sowie „Powertrain Technology“. Johnson Controls hat nach dem Verkauf der Interiorsparte (Yangfeng Automotive Solutions, 2015) und der Ausgründung von Adient (2016) nun auch das letzte Automotive-Segment, die Power Solutions (2018), veräußert. Fast jeder zehnte Zulieferer aus den Top 100 (bezogen auf den Umsatz) hat in den vergangenen zwei Jahren einen dramatischen Wandel durchlaufen. Was steckt hinter diesen Zerschlagungen, Carve-Outs, Spin-Offs, Aufspaltungen und IPOs?

Autoren
Dr. Jan Dannenberg

Executive Partner

Dr. Alexander Timmer

Partner

FLUCHT AUS DEM VERBRENNER ODER „LAST MAN STANDING“

Der sogenannte „Tipping Point“, ab dem es für die Produktion von Komponenten für Verbrennungsmotoren kein Wachstum mehr geben wird, rückt näher. Zwischen 2023 und 2025 wird die Spitze erreicht sein. Heute können sich die großen Automobilzulieferer noch von ihren (Verbrennungs-)Motoren- und Getriebegeschäften trennen und erhalten einen soliden Preis dafür. Die bislang erzielten Verkaufspreise liegen derzeit bei einem EBIT-Multiple von 5 bis 6 (zum Vergleich: Automobilzulieferer ohne Verbrennungsmotorengeschäft liegen bei einem EBIT-Multiple von 10 bis 12, also doppelt so hoch). Die Trennung vom Verbrennergeschäft ist fast vergleichbar mit der Ausgründung von „Bad Banks“, die von einigen Banken nach der Finanzkrise praktiziert wurde: „toxische“ Geschäftsbereiche werden herausgelöst und können somit den verbleibenden Rest des Unternehmens nicht mehr schaden. Sollte der totale Ausstieg aus dem Verbrenner bis 2050, wie von vielen nationalen Regierungen angekündigt, tatsächlich stattfinden, könnten sich Conti, Bosch, Magneti Marelli und Co. sukzessiv von diesem risikobehafteten Geschäft trennen. Sollte der Verbrenner aber auch in ferner Zukunft weiterhin eine Rolle spielen, kann sich dieser für heutige Investoren doch noch zu einem attraktiven Investment entwickeln. In diesem Fall gilt für den „last man standing“ des Verbrennergeschäfts eine ähnliche Regel wie in manchen digitalen Geschäftsmodellen: The winner takes it all.

CASE ALS HEILIGER GRAL DER AUTOMOBILINDUSTRIE

Der vermeintliche Niedergang des Verbrennungsmotors wird durch die totale Fokussierung auf die CASE-Technologien verschärft. Traditionelle Innovationsfelder im Interieur, im Exterieur, dem Antriebsstrang oder der Karosserie verschwinden aus der öffentlichen Diskussion. Was nicht mit den Attributen Künstliche Intelligenz, Cyber Security, Big Data, autonom, Blockchain und Co, versehen ist, wird kaum noch wahrgenommen. Nur mit Hilfe digitaler Lösungen, so scheint es, ist noch eine Entwicklung und Überleben der Automobilindustrie möglich. Dabei sind es gerade die „traditionellen“ Zulieferer, die eine reibungslose Integration ins Fahrzeug am besten sicherstellen können und viele Weiterentwicklungen in klassischen Anwendungsbereichen vorantreiben, aus denen sich mancher der OEMs bereits zurückgezogen hat. Wie groß inzwischen der Unterschied zwischen „digital“ und „traditionell“ geworden ist zeigt der folgende Vergleich. In den Jahren 2017/18 konnte das Startup WayRay, ein Hersteller von holographischen Augmented Reality-Technologien und -Benutzeroberflächen, insgesamt Risikokapital in Höhe von US Dollar 98 Millionen einsammeln – aktuell beschäftigt das Unternehmen 50 Mitarbeiter und setzt US Dollar 3,5 Millionen um. Im letzten Jahr wurde der Zulieferer Proseat (Sitzkissen, Umsatz Euro 291 Millionen und 2.100 Beschäftigte) an einen japanischen Mitbewerber verkauft und mit zirka Euro 45 Millionen bewertet. Bezogen auf das Umsatz-Multiple ist WayRay um den Faktor 180 höher bewertet worden als Proseat. Die Kluft zwischen CASE bzw. Startups und traditionellen Modulen bzw. Zulieferern kann kaum größer sein.

KONZERNE HÄNGEN DEN MITTELSTAND AB

Seit Jahren schon erwirtschaften die Zulieferkonzerne höhere Renditen als der Mittelstand (8 Prozent EBIT-Marge im Vergleich zu zirka 6 Prozent) und wachsen auch stärker. Der Konzentrationsprozess für die gesamte Automobilzulieferindustrie geht weiter. Bis zum Jahr 2025 rechnet Berylls in seiner Global-Top-100-Studie mit einem Anteil von 60 Prozent des Gesamtumsatzes, der auf die 100 größten Zulieferer fällt; heute sind es knapp über 50 Prozent. Die großen Zulieferkonzerne sind globaler aufgestellt, verfügen über einen leichteren Zugang zu den Kapitalmärkten, haben durch Best-Cost-Country Standorte wettbewerbsfähigere Kostenstrukturen, stecken hohe Summen in die Entwicklung von CASE-Technologien oder kaufen sich notwendige Kompetenzen durch die Übernahme von Unternehmen einfach zu. Dem Mittelstand bleibt seine Agilität und sein Unternehmertum, die Spezialisierung auf Nischen und das Kostenbewusstsein, um sich weiterhin als Zulieferer behaupten zu können.

Wird die Zwei-Klassen-Gesellschaft in den kommenden Jahren weiter zementiert, steigen die Unterschiede sogar noch weiter? Nach heutigem Kenntnisstand bewegen sich traditionelle und digitale Geschäftsmodelle mit zunehmender Geschwindigkeit voneinander weg. Dies bedeutet jedoch nicht, dass traditionelle Geschäftsmodelle dem sofortigen Untergang geweiht sind. Vielmehr entstehen für die verbleibenden Marktteilnehmer in traditionellen Bereichen auch neue Chancen: Einerseits dadurch, dass sich die Anzahl der Wettbewerber durch Marktaustritte reduziert und der kleiner werdende Kuchen damit auf weniger Köpfe verteilt werden muss. Andererseits durch mittel- bis langfristig weiterhin hohe Stückzahlen des Verbrennungsmotors: Totgesagte leben vielleicht doch länger als vermutet.

ÜBER DEN AUTOR

Dr. Jan Dannenberg (1962) ist seit 1990 Berater der Automobilindustrie und seit Mai 2011 Gründungspartner bei Berylls Strategy Advisors. Bis zum Frühjahr 2011 war er acht Jahre international als Partner – davon fünf Jahre als Associate Partner – für Mercer Management Consulting und Oliver Wyman tätig. Er ist ausgewiesener Spezialist für Innovationen und Markenmanagement in der Automobilindustrie und berät im Schwerpunkt Zulieferer und Investoren zu Strategie, Mergers & Acquisitions und Performance Improvement. Zudem ist er Geschäftsführer von Berylls Equity Partners, eine auf Mobilitätsunternehmen spezialisierte Beteiligungsgesellschaft.

Bachelor of Arts in Volkswirtschaftslehre von der Stanford University, Studium der Betriebswirtschaftslehre und Promotion an der Universität Bamberg.